Seit der Einführung der Regel, dass große Schiffe bereits nach dem Verlust der Hälfte ihrer Trefferpunkte als halber Abschuss gewertet werden, werden immer wieder Stimmen laut, dieselbe Regel auch für kleine Schiffe einzuführen.
Als Grund dafür wird angeführt, dass es mittlerweile einige kleine Schiffe gibt, die ebenfalls einfach zu beschädigen, aber schwierig komplett zu zerstören sind, und die gleichzeitig teuer genug sind, durchaus als veritable Punktespeicher zu fungieren.
In dieser Hinsicht wiederholt sich damit das Problem mit großen Schiffen im Welle 4/5/6 Meta – und die Halbe-Punkte-Regel wurde ja um genau dieses Problem abzufedern eingeführt.
Disclaimer:
- Dieser Artikel beinhaltet einige Fachbegriffe aus Mathematik, Informatik, Optimierungstheorie und Spieltheorie. Ich hoffe, dass trotzdem alles einigermaßen verständlich ist.
- Ich schreibe Fachartikel über solche Themen üblicherweise auf englisch. Das ist jetzt mal ein Versuch auf deutsch, da die Mehrzahl der Leser vermutlich deutschsprachig ist. Leider leidet dabei vermutlich ein bisschen die sprachliche Finesse.
Von Spielmechaniken und Belohnungsfunktionen
Während die eingangs erwähnte Argumentation sicherlich stichhaltig ist, wird ein zentraler Gesichtspunkt aber in der Diskussion meistens außen vor gelassen. Dessen Kern hat mit den fundamentalen mathematischen (und psychologischen) Prinzipien von Taktikspielen zu tun: Es handelt sich um das System von Belohnungsfunktionen.
In X-Wing ist es das Ziel, die gegnerischen Schiffe zu beschädigen (und zu zerstören); und obwohl es in dem Spiel noch einige andere Belohnungsfunktionen gibt, befassen wir uns hier maßgeblich mit denen, die auch genau damit zu tun haben. Neben den Spielmechaniken, die einen Spieler dafür belohnen, Schaden zu verursachen (PS-Kills zur Vermeidung von Return Fire, Crits verteilen damit das gegnerische Schiff in seiner Effektivität im Kampf beeinträchtigt wird, Abschalten von Fähigkeiten wie die von Pure Sabacc durch Treffer oder Schaden), gibt es bei X-Wing die zentrale Belohnungsfunktion für die Punktewertung; diese ist am Ende jeder Partie ausschlaggebend für die Ermittlung des Siegers. Die Halbe-Punkte-Regel ist offenkundig eine Modifikation dieser Funktion.
Wie funktionieren Taktik- und Strategiespiele?
Taktik- und Strategiespiele sind Instanzen von Optimierungs-problemen: Für jede Aktion, die ein Spieler macht, muss er zunächst bewerten ob diese ihn seinem Ziel, die Partie zu gewinnen, näher bringt oder nicht. Dies zu entscheiden ist im Allgemeinen schwierig, wodurch – und das ist ein entscheidender Punkt – das Spiel erst Spaß macht. Ein Spiel bei dem alle taktischen Probleme einfach optimal zu lösen sind, ist berechenbar und langweilig. Beim Design solcher Spiele gibt es nun mehrere Methoden, um zu verhindern, dass diese Probleme trivial lösbar sind: Einführen eines Gegners, der ein anderes oder sogar entgegengesetztes Ziel verfolgt (X-Wing verwendet letzteres), verdeckte Informationen (Manöverräder in der Planungsphase; der Gegner selber kann theoretisch auch als verdeckte Information verstanden werden), Breite des Spielbaums (mögliche Manöver und Angriffsprioritäten; allerdings ergeben diese in X-Wing in vielen Situationen nur einen deutlich schmaleren Spielbaum als man annehmen würde), ein komplexes System von Zufallsvariablen und Wahrscheinlichkeiten (Würfel und eine ganze Reihe von nicht trivial zu berechnenden Möglichkeiten, die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen zu modifizieren) und zuletzt, ganz wichtig, nichtlineare Belohnungsfunktionen (ähhh… wie bitte?!).
Selbst wenn all die oben genannten Methoden eingesetzt werden (Würfel, Gegner, verdeckte Manöverräder, etc.) ist die Bewertung von Entscheidungsmöglichkeiten (bringt mich das näher an den Sieg?) um Größenordnungen einfacher, wenn die Belohnungs-funktion linear (oder auch nur weniger grob quantisiert) ist. Die Halbe-Punkte-Regel tut aber genau das: Sie macht die Punktewertung linearer und feiner quantisiert. Zugegeben, das Ganze ist dann immer noch ein gutes Stück von einer vollkommen linearen Funktion entfernt, aber es ist ein massiver* Schritt in diese Richtung.
Was wäre wenn…
Um sich die Tragweite einer solchen Regel bewusst zu machen ist es hilfreich, sich das Extrem des Designraumes in dieser Richtung einmal anzuschauen: Was wäre wenn, was übrigens auch viele Spieler häufig fordern (allen voran Bob Randall – möglicherweise damit seine fundamentale Annahme von Lanchester’s square law für seine Jousting Values endlich stimmt; die nichtlineare Belohnungsfunktion ist nämlich ein Grund, warum MathWing 1.0 und 2.0 so schlechte Ergebnisse liefern. Für MathWing 3.0 hat er’s jetzt endlich eingesehen.), die Punktevergabe wirklich linear wäre? Jedes Schiff hätte dann seine eigene lineare Belohnungsfunktion, deren Steigung sich aus dem Quotienten aus Anzahl der aufgewendeten Punkte und der Anzahl der Trefferpunkte ergibt. Oberflächlich sieht das zunächst ganz gut aus; z.B. bringt ein Treffer auf Fenn Rau (32pt build) mehr Punkte als ein Treffer auf Dengar (58pt build) und das wiederum mehr als ein Treffer auf Miranda (48pt build) – Fenn ist ja auch schwieriger zu treffen als Dengar und der ist schwieriger zu treffen als Miranda. Wenn wir jetzt noch in die Rechnung mit aufnehmen wollen wie schwierig es ist, diese Schiffe zu treffen, geht das plötzlich auch. Da die Belohnungsfunktion jetzt linear ist, kann man ja jeden Treffer (aber auch jedes Ausweichen und jeden regenerierten Schild) für jedes Schiff zu jeder Zeit im Spiel direkt mit Punkten bewerten. Jetzt kann man auch einfach die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen für Schaden auf einem Schiff A, wenn es von einem Schiff B angegriffen wird nehmen (die kann man über ein paar Tage durch Monte-Carlo-Verfahren alle raussimulieren oder auch direkt geschlossen formulieren) und durch die lineare Belohnungsfunktion trivial transformieren. Bei den o.g. Schiffen erhält man dann ein ganz eindeutiges Ergebnis, dass Fenn weniger Punkte abgibt als Dengar und dieser wiederum weniger als Miranda (inklusive Regeneration jede Runde bezogen auf 7 Kampfrunden). Voila – funktionierendes Mathwing. Computer-gestützt oder mit etwas (naja – doch schon sehr viel) Fleißarbeit lässt sich jetzt jeder Build für jedes Schiff bezogen auf jeden Gegner exakt und direkt im Hinblick auf den Spielsieg quantifizieren.
Beachtet bitte, dass es in dem Beispiel nicht darum geht, ob diese drei Schiffe jetzt balanced sind oder nicht – das ist hier völlig nebensächlich. Der wichtige Punkt ist, dass es bei einer linearen Belohnungsfunktion viel, viel einfacher ist für jedes Meta die optimale Liste auszurechnen. Das führt dann zwangsläufig dazu, dass das Meta immer sehr schnell auf eine sehr kleine Menge von Schiffen/Listen konvergiert. Das passiert ohnehin schon gelegentlich, dauert aber normalerweise mehrere Monate und wird nur durch vergleichsweise schwache empirische Daten gestützt (selbst die Ergebnisse von 1000 Partien sind statistisch gesehen häufig nicht aussagekräftig). Bei einer Linearisierung der Belohnungsfunktionen geht das Ganze dann in wenigen Stunden und liefert alle Siegwahrscheinlichkeiten und die zugehörigen Varianzen (unter der Voraussetzung, dass beide Spieler optimal fliegen). Diese Situation will man in keinem Taktik- oder Strategiespiel haben. Im Gegenteil – normalerweise versucht man das als Spieldesigner ganz aktiv zu verhindern.
Fazit
Natürlich wäre eine Ausweitung der Halbe-Punkte-Regel auf kleine Schiffe noch keine komplette Linearisierung der Belohnungsfunktion, sondern nur ein (immerhin recht großer*) Schritt in diese Richtung. Auch ist die Transformation von Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen durch eine 2-Sprung-Funktion immer noch deutlich komplexer zu handhaben als durch eine wirklich lineare Funktion. Und selbstverständlich haben diejenigen Recht, die sich beklagen, dass es einige kleine Schiffe gibt, die zu viele Punkte zu einfach bis zum Spielende halten können. Dieses Problem ist durch die neuen Möglichkeiten des Hitpoint-Pooling (AKA Schadensverteilung) in Welle 11 auch nochmals größer geworden. Aber die Halbe-Punkte-Regel ist keine gute Lösung für dieses Problem, sondern sehr gefährlich für das Spiel. Sie bringt uns einem Zustand nahe, in dem optimaler Listenbau und Zielpriorität realistisch ausgerechnet werden können. Und das ist dann ein Spiel, was die wenigsten von uns noch spielen wollen.
* Als Übung für Leser, die auch Optimierungs-Geeks sind: Wieviel näher ans Optimum kommt ein trivialer Greedy-Ansatz (Auswahl nach Profitabilitätsindex) bei einer Knapsack-Instanz, wenn sich plötzlich die Gewichte/Gewinne auch halbieren lassen?
Ein Gedanke zu „Halbe Punkte für kleine Schiffe? Ein paar theoretische Gedanken…“